- spanische Prosa im 19. Jahrhundert: Costumbrismo und Realismo
- spanische Prosa im 19. Jahrhundert: Costumbrismo und RealismoNach dem Tod Ferdinands VII., der sein Land despotisch regiert hatte, entstanden in den Dreißigerjahren des 19. Jahrhunderts einige der wichtigsten kulturellen Institutionen Spaniens. So wurde 1835 das »Ateneo Científico, Literario y Artístico« eröffnet, eine freie Akademie, an der die verschiedensten Künste gepflegt wurden. Es bildete sich aber auch die bedeutendste »Tertulia« Madrids, die in Verneigung vor dem großen französischen Vorbild »El Parnasillo« (= der kleine Parnass) genannt wurde. Diesem »Stammtisch« gehörte neben dem bedeutenden Romantiker und Gründungspräsidenten des Ateneo, dem Herzog von Rivas, auch der Schriftsteller Ramón de Mesonero Romanos an. Mesonero, ein wichtiger Vertreter des Costumbrismo, avancierte mit seinen »Madrider Szenen« (1836-42) und den »Typen und Charakteren« (1843-62) zum Chronisten eines Madrid, das bereits zu verschwinden drohte. Seine Schilderungen des Lebens in der Hauptstadt sind von wohlwollender Ironie und verhaltenem Moralismus geprägt, aber mit nostalgischer Wehmut durchzogen.In den skizzenhaften und pointierten Artikeln Mariano José de Larras zeigt sich vielleicht am deutlichsten die Verbindung zu den liberalen politischen Ideen der romantischen Dramatiker. Der Costumbrismo ist nicht mehr bloße Sittenschilderung, sondern enthält zunehmend sozialkritische Aspekte.Larra zielt dabei immer wieder auf den einen wunden Punkt: In Madrid fehlte zwischen der Masse der Armen und derjenigen Schicht, die er die »Müßiggänger und Schwätzer« nannte, eine dynamische Mittelklasse, die die Geschicke Madrids und Spaniens aktiv hätte gestalten können. Sein Zorn gilt daher denjenigen, die auf den Alleen und Prachtstraßen flanieren und sich in der Oper oder beim Stierkampf amüsieren, statt sich um Politik zu kümmern.Diese sozialkritische Wendung des Costumbrismo bestimmt auch die spanische Ausprägung des realistischen Romans, der sich zwar anfangs an englischen und französischen Vorbildern orientierte, aber schon bald eigene Wege ging. Die überragende Gestalt des Realismus ist ohne Zweifel Benito Pérez Galdós. Seine Sonderstellung beruht nicht nur auf der außerordentlich langen Schaffensperiode, sondern auch auf der Vielfältigkeit seines umfangreichen Werks. In dem monumentalen, 46-teiligen Romanzyklus »Nationale Episoden« (1873-1912) erzählt der Autor die turbulente spanische Geschichte des 19. Jahrhunderts von der Schlacht von Trafalgar im Jahre 1805 bis zur Restauration 1875. Wenn auch die Titel die Erinnerung an große nationalgeschichtliche Ereignisse beschwören oder bedeutsame Phasen benennen - »Der Terror von 1824« oder »Spanien ohne König« -, Galdós interessiert sich nicht für die Geschichte der Ereignisse als solche, sondern für ihre Auswirkungen auf das Leben der Menschen. Er wählt daher für die jeweilige historische Phase typische Helden, in deren Leben sich die Epoche spiegelt. So steht etwa der Liberale Salvador Monsalud im Mittelpunkt des zweiten Zyklus, der den Konflikt von Liberalen und Anhängern des Absolutismus beschreibt.Noch während Galdós an den »Episoden« arbeitete, schrieb er weitere Romane, die zunächst religiöse Probleme unter gesellschaftlichem Blickwinkel beschrieben. So setzt er in »Doña Perfecta« (1876) dem Fanatismus der Titelheldin die liberale Haltung Pepe Reys entgegen. In »Gloria« (1877) scheitert die Liebe der Protagonistin zu dem Juden Daniel, da seine Bereitschaft zum Übertritt bei seiner fanatischen Mutter auf harten Widerstand stößt.Die folgenden »Novelas contemporáneas« (= zeitgenössische Romane) sind Studien verschiedenster sozialer Probleme. In dem Meisterwerk »Fortunata und Jacinta« (1887) porträtiert Galdós die Madrider Gesellschaft mit all ihren Widersprüchen. Der »kleine Don Juan« Juanito Santa Cruz führt ein Doppelleben; bezeichnenderweise schenkt ihm nicht seine langweilige Ehefrau Jacinta, sondern seine Nebenfrau Fortunata, die aus ärmsten Verhältnissen stammt, einen Sohn. Die von Konventionen befestigten sozialen Grenzen haben nach Galdós keine Zukunft mehr, nur die Verbindung der Klassen trägt noch Früchte. Der Roman »Angel Guerra« (1890/91), dessen Protagonist (sein Name bedeutet »Engel Krieg«) sich aus Liebe vom Revolutionär zum Mystiker wandelt, deutet auch eine Spiritualisierung an, die sich in den weiteren Romanen fortsetzen sollte (»Nazarín« oder »Misericordia«).Die intensive Auseinandersetzung mit den naturalistischen Ideen Émile Zolas hat Emilia Gräfin von Pardo Bazán - wohl zu unrecht - das Etikett einer Naturalistin eingehandelt. Zwar hatte sie selbst für ihre »Tribunin« (1882), in der sie das ausweglose Leben der Arbeiterinnen darstellt, monatelang in einer Tabakfabrik in La Coruña recherchiert. Aber ihr 1883 erschienener Essay »Die drängende Frage« übte bereits herbe Kritik an Zolas Doktrinen und löste damit einen Skandal aus. Die spanische Katholikin Pardo Bazán bekämpfte vor allem den atheistischen Determinismus Zolas, der menschliches Handeln aus Vererbung und Milieu herleiten wollte. Doña Emilia behauptete, es sei Zola nicht gelungen, mit seinem Großzyklus »Die Rougon-Macquart« seine dem Positivismus Auguste Comtes entlehnten Thesen zu beweisen. Mit »Das Gut Ulloa« (1886) und der Fortsetzung »Mutter Natur« (1887) versuchte Doña Emilia, ihre Ansichten umzusetzen und zu beweisen, dass man literarisch keine Thesen beweisen könne. Die raffinierte psychologische Ausdeutung der Figuren und die noch von fern an den Costumbrismo erinnernden Studien der galicischen Wirklichkeit machen den ästhetischen Reiz dieser Werke aus.Noch komplexer legt Leopoldo Alas, der unter dem dem Pseudonym »Clarín« veröffentlichte, die Charaktere seines 1884/85 erschienenen Hauptwerks »Die Präsidentin« an. Im Zentrum der Handlung steht Ana Ozores, die Frau eines Gerichtspräsidenten. Sie leidet an Langeweile und wurde oft mit Flauberts Figur Emma Bovary verglichen, weshalb man lange um die Originalität des Werks gestritten hat. Die »Präsidentin« macht in dem realistischen Panorama der »altehrwürdigen« Stadt Vetusta - das Vorbild war Oviedo - die Verkrustung der spanischen Gesellschaft der Bourbonen-Restauration nach der Thronbesteigung Alfons XII. (1874) sinnfällig. So sind die wiederholten Versuche Anas, sich im Glauben oder in der Familie zu verwirklichen, ebenso zum Scheitern verurteilt wie die politischen Reformbestrebungen: Ihr geistlicher Beistand Fermín de Pas begehrt sie auf höchst irdische Art, die Impotenz ihres Mannes Don Víctor de Quintanar erstickt ihren Kinderwunsch. Zu einem Meisterwerk wird »Die Präsidentin« aber dadurch, dass die Vorliebe Don Víctors für Calderóns Ehrendramen und die Aufführung von José Zorrillas »Don Juan Tenorio« (1844) nicht nur eingesetzt werden, um die Erstarrung dieser Gesellschaft anzudeuten. Die Dramen werden Bestandteil der Handlung, denn Ana kann sich offensichtlich nur noch im Ehebruch mit dem Provinz-»Don Juan« Don Alvaro Mesía verwirklichen, ihr Gatte aber nur noch als »Arzt seiner Ehre« (wie ein Calderón-Drama von 1637 betitelt ist). Allerdings geht Don Víctor nicht als Sieger aus dem Duell mit Don Alvaro hervor, sondern wird von seinem Nebenbuhler getötet. Den altspanischen Ehrbegriffen wird hier - stellvertretend für alle traditionalistischen Wertvorstellungen - eine Absage erteilt: Das Rad der Geschichte ist nicht anzuhalten.Dr. Juri Jakob
Universal-Lexikon. 2012.